Interview: It’s Brexit, stupid…

Marie Sherlock, interviewt von Stephan Leicht

Unter diesem Link gelangst du zu meinem ersten Brexit-Artikel, in dem ich vor allem meine Eindrücke widergebe.
Ich wünsche dir eine lohnende Lektüre des Interviews, welches ich mit der Chefökonomin der größten irischen Gewerkschaft SIPTU zum Thema Brexit geführt habe.

 

Interview: It’s Brexit, stupid…
mit Marie Sherlock
Leitende SIPTU-Ökonomin

 

Stephan Leicht: In meinen Augen inkludiert der bevorstehende Brexit ökonomische Aspekte, er wird aber auch Effekte auf die Republik Irland und auf die irische Gesellschaft haben,… lass uns das Interview bitte mit den ökonomischen Aspekten beginnen.
Marie Sherlock: Damit hast du Recht. Bevor wir die ökonomischen Effekte diskutieren können, ist es wichtig zu konstatieren, dass die Republik Irland äußerst regen Handel mit dem United Kingdom (kurz: UK) pflegt. Größeres Wachstum liegt jedoch im Handel mit den anderen europäischen Handelspartnern. Speziell einige Wirtschaftssektoren wie etwa der Landwirtschafts- und der Dienstleistungssektor haben starke bilaterale Handels- und Produktionsbeziehungen mit dem UK. Und das ist oft ein Prozess in beide Richtungen. Während ein Teil des Produktionsprozesses in Irland liegt, liegt der andere Teil des Prozesses im UK… Diese bilateralen Prozesse werden massiv getroffen werden.
SIPTU (Anm.: die größte irische Gewerkschaft) hat viele Mitglieder in diesen Sektoren, die durch den Brexit am härtesten getroffen werden.

Stephan Leicht: Stimmt es, dass man aktuell von 3 wahrscheinlichen Szenarien ausgehen kann, die nach dem Brexit eintreten warden? Bitte erkläre sie.
Marie Sherlock: Die drei Szenarien für Irland die auch Teil einer bilateralen politischen Erklärung sind:

1) Keine Harte Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland im Falle keines wie auch immer gearteten Handelsabkommens
2) Keine Harte Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland im Falle eines wie auch immer gearteten Handelsabkommens
3) Keine Harte Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland im Falle eines umfassenden Freihandelsabkommens

Alle 3 Szenarien heben klar hervor, dass es keine Harte Grenze auf der irischen Insel geben wird. Somit ist es als wahrscheinlich anzusehen, dass es keine Harte Grenze geben wird.
Aber ich denke, dass es Chaos und Konfusion geben wird, vor allem im Hinblick auf die am stärksten getroffenen Sektoren. Ich glaube aber, dass das Reisen (Anm.: Die Mobilität zwischen Nordirland und der Republik Irland) ungehindert stattfinden wird können.

Stephan Leicht: Die Botschaft der britischen Regierung lautete bislang strikt die EU-Zollunion und den EU-Binnenmarkt verlassen zu wollen. Ist das immer noch der Fall? Und wenn ja, für welches der 3 Szenarien spricht diese Haltung Großbritanniens?
Marie Sherlock: Theresa May betont immer noch diese rote Linie am Beginn ihrer Reden. Aber wenn man genau hinhört, wird diese rote Linie im Rest der Reden mehr und mehr rosa. Somit glaube ich, dass es Raum für Verhandlungen gibt.

Stephan Leicht: Für ArbeitnehmerInnen auf beiden Seiten der Grenze sind die Risiken hoch:
2,5% Rückgang der ökonomischen Aktivitäten in einem Zeitraum von 15 Jahren im Falle eines Handelsabkommens, nach dem Beispiel EU-Norwegen,
8% Rückgang der ökonomischen Aktivitäten, sollte es ein Handelsabkommen geben, nach dem Beispiel EU-Kanada (im Wesentlichen ein bilaterales Handelsabkommen bez. Waren und Dienstleistungen, ohne Harmonisierung der Reglements),
12% Rückgang der ökonomischen Aktivitäten wenn es kein Handelsabkommen geben sollte.
Liege ich richtig mit meiner Annahme, dass egal was davon passieren wird, es mit Sicherheit schlechter werden wird?
Marie Sherlock: Speziell für Nordirland wird der Effekt des Brexit groß sein, da es keine globalisierte Ökonomie ist. 2/3 der Waren und Dienstleistungen bleiben innerhalb Nordirlands. Nur 1/3 wird exportiert. Ungefähr 20% des Exports geht ins UK und 14% in die Republik Irland. Und ja, egal welches Szenario, es wird einen Nettoverlust für alle Beteiligten geben.

Stephan Leicht: Für mich schaut es danach aus, als ob die Gewerkschaftspolitik von SIPTU danach trachtet eine Harmonisierung der Reglements oder ein Freihandelsabkommen mit dem UK anzustreben. Ist das der Fall?
Marie Sherlock: Nein, unsere Politik möchte erreichen, dass das UK die EU nicht verlässt. Nur wenn der Brexit tatsächlich eintreten sollte, müssen wir einen Weg finden, damit beispielsweise unsere Nahrungsmittelindustrie nicht massiv getroffen wird (Anm.: 45% der Nahrungsmittelexporte gehen von der Republik Irland ins UK).
Das Problem ist aber auch, dass egal welches Abkommen verhandelt werden sollte es lange dauern wird, bis es nach dem Brexit fertig verhandelt ist. Und es würde nicht zwischen der Republik Irland und dem UK verhandelt werden, sondern zwischen der EU und dem UK.

Stephan Leicht: Bitte erlaube mir diese Position zu prüfen. Aus einer europäischen Perspektive gibt es eine Sache die es zu verhindern gilt: Dass ein EU-Miglied die Gemeinschaft verlässt und hernach genau so mit der EU Handel treiben kann, wie zuvor. Es sollte keine Blaupause für andere EU-Mitglieder geben, die auch mit dem Gedanken an einen geschmeidigen Ausstieg spielen.
Oder lass mich klarer werden: Als EU-Mitglied hat das UK immer Extravereinbarungen ausverhandelt. Wenn die Wirtschaft des UKs hart getroffen werden sollte nach dem Brexit, gibt es da nicht auch die Chance, dass das UK irgendwann einmal wieder zurück in die EU möchte? Aber dann selbstverständlich nur unter der Bedingung, dass es keine Extravereinbarungen mehr geben wird…
Marie Sherlock: Lass mich so antworten: Der belgische Prime Minister Charles Michel sagte: “Ich denke wir müssen fair sein, aber nicht naiv. Von Europa aus, auch von den 27 Ländern aus, haben wir Kapazitäten für die Verhandlungen und Instrumente in unseren Händen für diese Verhandlungen und ich hoffe, es wird möglich sein eine Balance zu finden.“ Im Falle eines Brexit stehen wir für eben jene Balance. Innerhalb der nächsten 12 Monate werden wir sehen, in welche Richtung sich der Brexit bewegt.

Stephan Leicht: Die größte lokale Auswirkung des Brexit wäre wohl jene auf Nordirland, welches ja wie vorher erwähnt keine echte globalisierte Wirtschaft besitzt. Aber auch die Republik Irland würde große ökonomische Auswirkungen zu spüren bekommen, wenn kein Handelsabkommen nach einem Brexit verhandelt wird: 10% der Exporte gehen ja ins UK (Quelle: Liberty Vo. 17 No. 1 Seite 12)…
Aber gibt es nicht auch positive ökonomische Auswirkungen, beispielsweise Unternehmen die noch vor dem Brexit ihre Zentralen von Nordirland oder auch vom UK in die Republik Irland verlagern um so innerhalb der EU zu bleiben?
Marie Sherlock: Ja das stimmt. Der Dubliner Hafen erlebt beispielsweise gerade großes Wachstum, weil sich alle Handelsunternehmen brexit-fit machen. Es wäre aber falsch nur auf die positive Seite zu schauen. Verschafft man sich einen Überblick, welcher positive Gewinne und negative Verluste beinhaltet, überwiegen die Verluste enorm.

Stephan Leicht: Bitte lass uns nun den nationalen und gesellschaftlichen Auswirkungen zuwenden, welche der Brexit ebenso haben kann: Ist der Brexit eine Gefahr für das Good Friday Peace Agreement? Und wenn ja, erkläre bitte warum.
Marie Sherlock: Nordirland verteilt seine Regierungssitze nach dem D’Hondt Verfahren und inkludiert alle Gemeinden. In den letzten 10 Jahren haben nur die 2 großen Parteien, die DUP (Anm.: Die Demokratische Unionspartei steht für die Union Nordirlands mit dem UK) und Sinn Feign (Anm.: Steht für eine Annäherung Nordirlands an die Republik Irland) koaliert. Seit 2 Jahren gibt es keine Regierung in Nordirland, weil diese Parteien nicht mehr miteinander koalieren. Wir sehen die Gefahr, dass das UK außerhalb der EU die Politlandschaft Nordirlands destabilisieren könnte. In dieser Lage ist es äußerst nachteilig für Nordirland keine Regierung zu haben.

Stephan Leicht: Wie siehst du die Rolle der Gewerkschaften im Falle des Brexit und speziell in Bezug auf das Good Friday Peace Agreement? Vor allem weil Nordirland ohne Regierung führungslos in den Brexit steuert, genau so wie das Peace Agreement?
Marie Sherlock: In Abwesenheit einer nordirischen Regierung gibt es niemand, der das Good Friday Peace Agreement schützen kann. Nur die Gewerkschaften können das, welche die größte Lobby für den Schutz des Friedensabkommens sind. Speziell weil die Gewerkschaften es gewohnt sind über die Grenzen hinweg zu arbeiten.

Stephan Leicht: Wie denkst du wird sich der Brexit auf das Good Friday Peace Agreement auswirken und welche Konsequenzen kann es geben?
Marie Sherlock: Wenn wieder harte Grenzen errichtet werden, kann alles passieren…

Stephan Leicht: Kann es auch zu einem Krieg kommen? Es kommt mir vor, dass eine Harte Grenze das kollektive irische Trauma darstellt.
Marie Sherlock: Das ist korrekt. Und ja, die Möglichkeit eines Krieges ist gegeben.

Stephan Leicht: In meinen Recherchen habe ich herausgefunden, dass das Good Friday Peace Agreement die Möglichkeit eines Referendums inkludiert, welches Nordirland erlauben könnte Teil der Republik Irland zu werden. Nun haben 58% der Nordiren gegen den Brexit gestimmt. Wäre es denkbar dieses Referendum vor dem Brexit durchzuführen?
Marie Sherlock: Nein, ich sehe dieses Referendum nicht. Aber ich sehe die Frage unter den Unionisten (Anm.: Jener Teil der Nordiren, der sich als Teil des UK versteht und die Anbindung an Großbritannien wünscht) aufkommen, ob sie wirklich besser dran sind wenn sie die EU verlassen. Ich bin sicher, diese Frage wir öfter und öfter gestellt.

Stephan Leicht: Ich danke dir für dieses Interview!
Marie Sherlock: Gerne! War mir ein Vergnügen mit dir zu diskutieren!

 

The English original
Interview Brexit
Marie Sherlock
SIPTU-Economist

Stephan Leicht: To me Brexit includes economic aspects, but also aspects for Ireland as a Republic, as a society…, let us please start with the economic aspects.
Marie Sherlock: You are right with that. In order to discuss the economic aspects, it is important to notice that the Republic of Ireland has very strong trading ties with the UK. But more growth with EU-Trade. Especially some economic sectors like the agriculture and the service sector do have strong over boarder cross flows with the UK. And that is even often a two way process, like one part of production takes place in the Republic of Ireland and the other part of production takes place in the UK. That will get heavily effected.
SIPTU also has large memberships in those sectors that will be affected through Brexit the most.

Stephan Leicht: Is it true that there are three main possible scenarios after Brexit, please explain them
Marie Sherlock: The three scenarios for Ireland that are part of a political declaration in between are:
1) No hard border between the Republic of Ireland and Northern Ireland in the event of no trade agreement.
2) No hard border between the Republic of Ireland and Northern Ireland in the event of a trade agreement
3) No hard border between the Republic of Ireland and Northern Ireland in the event of a comprehensive trading agreement.
So all 3 scenarios point out that there will not be a hard border at the island of Ireland. So it is likely that there is no hard boarder. But I think that there will be confusion and chaos governing the regulation of the hard hit sectors. To me it seems save that travelling will be free.

Stephan Leicht: The British Government message remains deeply entrenched in wanting to exit the customs union (Zollunion) and the single marked (gemeinsamer Markt) is that still the case? And if yes, for which scenario does that position most likely speak?
Marie Sherlock: Theresa May still points out that red line at the beginning of her speeches, but in the rest of the speeches the red line is getting more and more pink. So I do think that there is room for negotiation.

Stephan Leicht: For workers on both sides of the border, the stakes are high: hit of 2,5% economic activity over 15 years if Norwegian-style agreement, loss of 8% if there is a Canada-EU Style trade deal = bilateral customs agreement of goods, no regulatory alignment, or a 12% hit, if there is no deal. Am I right, that no matter which scenario, it will be bad?
Marie Sherlock: Especially for Northern Ireland the hit of Brexit will be hard. It is not a globalised economy – 2/3 of goods and services stay within Northern Ireland and 1/3 of goods and services are exportet. 20% to the UK and 14% are going to the Republic of Ireland. And yes, not matter which scenario there will be a net loss for all players.

Stephan Leicht: It seems to me, that SIPTU’s policy to reduce the negative economic impact on labour is to go for a regulatory alignment (Harmonisierung der Regelungen) or a free trade agreement with the UK, is that the case?
Marie Sherlock: No, first of all, our policy says clear that we don’t want UK to leave at all. Only under the event of Brexit we need to find a way so that our food industry for example does not get completely hit. But the problem is that whatever agreement is maybe negotiated, it will take a very long time after Brexit happened. And it will not be negotiated between Ireland and the UK but between the EU and the UK.

Stephan Leicht: Please let me challenge this position. From a European perspective there is one thing to prevent: To have a EU-Member leaving which trades after leaving under the same conditions as before. That should not be a role model to be interesting for other EU-members.
Or let me make my point clearer: As EU-member GB was always negotiating some sort of extra conditions. If GB’s economy gets hit hard after the Brexit is’t there also a chance of them to be wanting to join the EU again, but without that “extra condition role” they’ve played in the EU so far?
Marie Sherlock: The Belgian Prime Minister Charles Michel said: “I think that we have to be ‘fair play’, but not naïve. From Europe, from the 27 countries, we also have capacities in the negotiations and we also have instruments in our hands for negotiations and I hope it will be possible to find a balance.” In case of Brexit we are also heading for that balance. Within the next 12 months we will see in which direction Brexit will move.

Stephan Leicht: The biggest local impact of the Brexit would probably be the impact it might have at Northern Ireland, which is not really a global economy: 20% of exports go to GB, 14% of exports go to Ireland (mainly food and live animal exports). But also Ireland would hit a huge economic impact if no trade agreement is negotiated: 10% of Irish exports go to GB (Quelle: Liberty Vol. 17 No. 1 Seite12)
But aren’t there also positive economic impacts, for example companies moving their headquarters from Northern Ireland or even the UK to Ireland?
Marie Sherlock: Yes that’s right. Dublin port for example is facing a huge expansion because all the trade companies are getting Brexit ready. But it would be wrong to only look at the net benefits. If you take an overall view including net benefits and net losses, I’m sure the net losses are much higher.

Stephan Leicht: Please let us now turn to the national/social impact Brexit might have: Is Brexit a danger to the good Friday peace agreement? And please explain why, if yes.
Marie Sherlock: Northern Ireland had a government at the D’Hondt election process, envolving all the communities. In the last 10 years only two large parties the DUP (Democratic Unionist Party) and Sinn Feign have coalized. Since two years there is no government in Northern Ireland cause they didn’t coalize any more. We see the danger now that the UK out of the EU could destabilize the political environment in Northern Ireland and that situation is not helped by the absence of a government.

Stephan Leicht: How do you see the role of unions under terms of Brexit and especially in terms of the Peace agreement? And especially because Northern Ireland has no Government and runs into the Brexit without a lead, as does the Peace agreement?
Marie Sherlock: In absence of a government in Northern Ireland there is nobody to protect the Good Friday Peace Agreement only the unions who are the greatest lobby to protect the Good Friday Peace Agreement. Especially because they are used to work crossboarder.

Stephan Leicht: How do you think will Brexit affect the Good Friday peace agreement and what kind of reaction could that cause?
Marie Sherlock: If hard boarders are reerected all can be possible…

Stephan Leicht: Also the possibility of war again? It seems to me, that a hard boarder is somehow the national trauma of Ireland.
Marie Sherlock: That is correct. And yes, that also includes the possibility of war.

 

Stephan Leicht: In my research I found out that the Good Friday Peace Agreement includes the possibility of e referendum, allowing Northern Ireland to become part of the Republic of Ireland. Now because 58% of Northern Irelands citizens have voted against Brexit, Could that be a possibility to have that referendum ahead of Brexit?
Marie Sherlock: No, I don’t see this referendum coming. But I see the question beginning to emerge among Unionists if they are really better of by exiting the EU. I’m sure, this question will be asked more and more.

Stephan Leicht: Thank you for the interview!
Marie Sherlock: It was a pleasure speaking to you.

 

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